Teilbericht zu einer Bergbesteigung im Pindos-Gebirge:
Diebe im Pindos-Gebirge ?
Im Mai 96 war ich mit meiner Frau in Griechenland unterwegs.
Eines Tages sahen wir einen wunderschönen Berg, die
Astraka im nördlichen Teil des Pindos-Gebirges. Auf
dem Gipfel lag zwar zu dieser frühen Jahreszeit noch sehr
viel Schnee, doch die Verlockung war groß und wir beschlossen,
den Berg zu besteigen. Beinahe wäre aber das Unternehmen
gescheitert, bevor es richtig begonnen hatte. Das kam so.
Abends sitzen wir auf der Terrasse des Gasthofs von Mikro Papingo. Jetzt vor
der Saison ist es ganz ruhig hier, vermutlich sind wir die einzigen
Fremden im Dorf. Gern lassen wir uns von den freundlichen
Wirtsleuten zu einem üppigen Mahl verleiten, denn
der Blick zur Astraka hoch über uns zeigt deutlich,
dass wir einen sehr anstrengenden Tag vor uns haben. Es ist
schon spät, als wir - beschwingt vom Retsina, dem
geharzten griechischen Wein - unserem Auto am Rande des
Dorfes zustreben. Diesmal haben wir für unser kleines fahrbares
Schlafzimmer ein besonders attraktives Plätzchen
gefunden, unmittelbar am Abgrund der berühmten mehr als
500 Meter tiefen Wikos-Schlucht.
Gerade als ich dabei bin,
mich genüsslich in meinem Schlafsack
auszustrecken, stellt meine Frau fest, dass im Auto
irgendwas schlecht riecht. Sie lässt auch nicht
locker, sucht
und sucht und findet
schließlich als Sünder meine schweren Bergschuhe. Die sind
tatsächlich nicht ganz geruchsfrei, schon allein deshalb nicht,
weil ich sie regelmäßig mit Rindertalg einreibe. Das macht sie
wasserdicht und den herben Geruch finde ich eher angenehm. Aber
um des lieben Friedens willen gebe ich nach und stelle die
Schuhe vor die Tür. Das Wetter ist sicher, da kann ihnen
auch draußen nicht viel passieren.
Mitten in der Nacht
wache ich plötzlich auf. Etwas hat an unser
Auto geklopft. Ich richte mich auf und sehe ein wundersames
Bild. Im hellen Mondlicht geht da eine junge blonde Frau
(wo es doch blonde Frauen in Griechenland so gut wie gar
nicht gibt), angetan mit postraffen weißen Jeans, langsam
zurück in das Dunkel des Dorfes. Zuerst denke ich, das
ist alles nur ein Traum. Aber meine Frau ist auch munter und
auch sie hat alles genau gesehen. Und wir können uns beide
nicht erklären, warum die blonde Frau an unser Auto geklopft
hat. An dieser Stelle muss ich allerdings
einfügen, dass uns
diese Frau nicht gänzlich unbekannt ist. Sie hatte nämlich im
Gasthof an einem Nebentisch gesessen und lange, schwarze
Zigarillos geraucht - eine durchaus beeindruckende Erscheinung.
Offenbar gehörte sie in irgendeiner Weise zum Gasthof dazu.
Doch warum hat sie jetzt an unser Auto geklopft? Lange
liege ich wach und denke mir viele Begründungen aus, darunter
auch einige für mich sehr schmeichelhafte. Aber so richtig
glaubhaft erscheinen sie mir selbst nicht.
Wir hatten uns vorgenommen, sehr zeitig aufzustehen. Doch nach
dem nächtlichen Intermezzo fällt es mir ziemlich schwer,
munter zu werden. Verschlafen angele ich mit meinen Füßen nach
den Bergschuhen, aber sie sind nicht da. Ich springe hinaus und
sehe mich um - die Schuhe sind weg! Hat sie jemand gestohlen?
Sollte es mit der sprichwörtlichen Ehrlichkeit der Griechen
etwa doch nicht so weit her sein? Der Schreck macht mich
schlagartig munter, denn ohne diese Schuhe kann ich
unmöglich auf die Astraka steigen. Barfuß springe ich um das
Auto herum, um sie vielleicht doch noch zu finden. Und
siehe da, als mein Blick zufällig auf das Dach des Autos
fällt, da steht da oben ein Schuh. Doch wie kommt der dort hin?
In meinem Kopf beginnt es mächtig zu arbeiten und - wer mich
kennt, wird es kaum glauben - schon nach kurzer Zeit habe
ich die Lösung des Rätsels.
Zum Gasthof gehören nämlich
zwei große weiße Hirtenhunde. Sie
laufen frei herum und haben offenbar den ständigen Auftrag, für
Ordnung im Dorf zu sorgen. Als wir nun gestern abend vom
Gasthof zurück zu unserem Auto gingen, folgten uns diese
beiden. Am Auto ließen sie sich in respektvoller Entfernung
nieder und sahen uns still bei unseren Schlafvorbereitungen
zu. So still, dass wir sie bald völlig vergessen hatten. Doch
jetzt ist mir ganz klar: diese beiden Scheinheiligen warteten
nur, bis wir schliefen, dann schleppten sie die verlockend
riechenden Schuhe hinauf ins Dorf. Die blonde Frau ertappte
sie mit einem der Schuhe. Sie erriet,
wohin der Schuh gehört und - welch eine Leistung - sie brachte ihn mitten in der Nacht
zurück zu unserem Auto! Kaum zu begreifen, diese große
Hilfsbereitschaft völlig Fremden gegenüber. Aber ich finde
keine andere Erklärung, es muss sich wohl so abgespielt haben.
Ich bin ganz gerührt und in meinen Gedanken entschuldige ich
mich bei unserer blonden Freundin für die niedrigen Motive,
die ich ihr nachts unterstellt hatte.
Doch mein Problem ist damit eigentlich noch nicht gelöst,
denn auch mit einem Schuh bleibt die Astraka unbesteigbar.
Deshalb und sozusagen als kleine Strafe überlasse ich meiner
Frau die alleinige Vorbereitung des Frühstücks - schließlich
stand ihr überfeiner Geruchssinn am Beginn des ganzen
Dilemmas - und gehe hinauf ins noch schlafende Dorf, um
die Hunde zu suchen. Am Gasthof sind sie nicht, aber nahebei
auf dem idyllischen Dorfplatz werde ich fündig. Unter einer
großen Platane liegt zusammengerollt der eine der Missetäter
und schläft. Mit einem vorsorglich mitgenommenen Stück Wurst
versuche ich ihn zu wecken. Aber er ist sehr müde. Kaum das
er den Kopf hebt, um die Wurst zu packen. Ich stoße ihn mit
meinem Fuß und halte ihm mit "such! such!" den mitgebrachten
Schuh vor die Nase. Doch er tut so, als verstehe er kein
Deutsch. Ich will gerade aufgeben, da merke ich, dass der
Hund immer in eine bestimmte Richtung schaut. Ich folge seinen
Blicken und sehe einen Zaun. Dahinter ist eine Wiese und
dort, vielleicht 50 Meter entfernt, entdecke ich den
zweiten Hundekopf. Schnell gehe ich hin und - welche Freude -
hier liegt tatsächlich der andere Schuh. Der hat zwar etwas
gelitten, die halbe Zunge ist abgebissen und oben drängt der
Schaumgummi aus Löchern heraus, aber der allein wichtige
untere Teil ist noch voll in Ordnung. Ich bin sehr froh
und belohne auch den zweiten Hund für seine maßvolle
Arbeit mit einem Stück Wurst - sicher der Grund dafür, dass
er uns später bis zum Gipfel der Astraka begleitet.
Bleibt zu sagen:
als wir nach der langen Tour ausgezehrt wieder
im Gasthof ankamen, saß unsere blonde Freundin schon hier. Sie
freute sich über meine beiden Schuhe und bestätigte alle unsere
Vermutungen zum nächtlichen Geschehen. Gern hätten wir
ihr zum Dank eine Flasche Wein geschenkt, doch das lehnte
sie ganz entschieden ab. Vielleicht hätten wir es besser
mit einer Schachtel Zigarillos versuchen sollen.
(Dieser Bericht wurde im Mitteilungsblatt 3/1996 des
Sächsischen Bergsteigerbunds veröffentlicht.)
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