Teilbericht zu Picos de Europa:


Naranjo de Bulnes

     An einem schönen Herbsttag gehe ich zusammen mit meiner Frau durch die Straßen von Arenas, einem malerischen Städtchen am Fuße der Picos de Europa. Unser Wanderführer hat offenbar recht, wenn er schreibt, dass in dieser sonst sehr regenreichen Gegend in Nordspanien der September der günstigste Reisemonat ist. Im Wanderführer steht auch, dass es hier den sagenhaft schönen Kletterberg Naranjo de Bulnes geben soll. Er wäre mit Abstand das bedeutendste Symbol des Klettersports im gewiss nicht gebirgsarmen Spanien und "nur auf extrem schwierigen Wegen zu besteigen". Diese Worte machen natürlich neugierig. Um näheres zu erfahren, gehen wir in eine Buchhandlung. Kletterführer gibt es leider nicht, nur eine Wanderkarte 1:75000. Aber an der Wand entdecken wir ein Poster mit einem faszinierenden Felsberg. Wir denken sofort an den Naranjo, doch beim genaueren Hinsehen lesen wir, dass dieser Berg Pico Urriello heißt. Donnerwetter, wie scharf wird da erst der Naranjo aussehen ? ( Erst viel später erfahren wir, dass Pico Uriello nur ein anderer Name für den Naranjo ist.)
     Auf der Wanderkarte ist der Naranjo mit den dicken Buchstaben der bedeutendsten Picos eingezeichnet - immerhin 2510m hoch. Wir sehen, dass man ziemlich nahe an den Berg heranfahren kann. Zuerst geht es 5km nach Süden bis Puente Pancebos. Hier befindet sich der Eingang in die berühmte Cares-Schlucht, angeblich vergleichbar mit der des Verdon in Südfrankreich. Wir heben uns diese Wanderung für später auf und fahren 10km weiter nach Osten und Süden bis zum Ende der Asphaltstraße beim Dorf Sotres. Von hier geht es in westlicher Richtung auf einem 5km langen Fahrweg in Serpentinen steil hinauf zum Collado Pandebano (1212m). Anscheinend wird das am Beginn des Weges dezent aufgestellte Verbotsschild allgemein ignoriert. Am Collado endet der Weg mit einer parkplatzartigen Erweiterung. Hier stehen schon fünf Autos, ihre Besitzer sind offenbar noch im Gebirge unterwegs.
     Während des Abendbrots verschlechtert sich das Wetter zusehends. Mit den ersten Regentropfen kriechen wir in die Schlafsäcke. Auch als uns mitten in der Nacht die Stimmen der zurückkehrenden Nachbarn wecken, trommelt es noch kräftig auf das Autodach - und das im günstigen Monat September. Früh bleiben wir deshalb etwas länger als geplant im Bett. Doch gegen 8 Uhr lässt der Regen nach, und gelegentliche helle Stellen im dicken Nebel über uns wecken die Hoffnung, dass das Wetter weiter oben vielleicht besser ist. Wir probieren es, und tatsächlich steigen wir nach kaum 200 Höhenmetern aus den Wolken heraus. Wir sehen ein schönes Bild. Helle Kalkzinnen türmen sich vor einem tiefblauen Himmel auf. König Naranjo selbst aber verbirgt sich noch hinter seinen Vasallen. Unter uns kämpfen Sonne und Wind erfolgreich mit den Wolken und bald erkennen wir tief im Tal die kleinen Häuschen von Bulnes. ( Wer autolos zum Naranjo will, kann mit dem Bus nach Puente Pancebos fahren und zum straßenfreien Bulnes aufsteigen. Dieser Ausgangspunkt ist dem Naranjo sogar näher als der Collado Pandebano, allerdings auch fast 700 Meter tiefer.) Deutlich sehen wir den Weiterweg vor uns. Nur wenig ansteigend umrundet er den riesigen Talschluss über Bulnes. Etwa in der Mitte quert er einen kleinen Felsensporn am Collado Vallejo. Wir gehen auf den rechten Begrenzungsfelsen und wie vorausgesehen steht er zum ersten Mal vor uns, der sagenhaft schöne Naranjo. Wir sind begeistert. Selbst wenn wir nicht hinaufkommen sollten - schon dieser Anblick ist die Reise wert.
     Erwartungsfroh gehen wir den jetzt steiler werdenden Weg weiter. Immer mächtiger und kühner wächst der Felsklotz über uns empor, bis wir schließlich unmittelbar unter seiner Westwand stehen. Gerade hinauf haben wir keine Chance - 500 Meter senkrecht bis überhängend. Der Wanderweg führt nach rechts zu einem Sattel, wo laut Karte irgendwo die Hütte Refugio de Urriello stehen soll. Links zieht ein schmaler Pfad durchs Geröll hinauf. Anscheinend ist das der bessere Zugang zu den leichten Anstiegen auf den Naranjo - falls es solche geben sollte. Übrigens findet man in diesem Teil des Gebirges keinerlei Wegweiser oder Markierungen und wir sind völlig auf unsere grobe Wanderkarte angewiesen. Aber wir haben Glück. Als wir noch über den Weiterweg rätseln, kommen hinter uns die ersten Menschen, die wir an diesem Tag sehen. An den Seilen auf den Rucksäcken erkennen wir sie als Bergsteiger. Mit unserem Minimalspanisch und Englisch erfragen wir die gewünschten Informationen. Tatsächlich gehts besser links herum zum Normalanstieg, und dessen Schwierigkeit sei nur "quatro". Das gibt uns wieder Mut. Die Frage nach der Westwand über uns beantwortet man mit "six and more" und so sieht sie denn auch aus.
     Die Spanier wollen auch zum Normalanstieg und sie bieten uns an, mit ihnen zu gehen. Wir versuchen es, doch sie sind sehr schnell und bald verlieren wir sie im steilen Couloir aus den Augen. Als wir schließlich im Südsattel ankommen, sehen wir die vier schon weit über uns in der Wand klettern. Der Naranjo wirkt von Süden wie ein Doppelgipfel und der Normalanstieg führt durch die breite Mulde zwischen den beiden Gipfeln empor - auf den ersten Blick beängstigend steil und ungegliedert. Auch rechts davon in einer riesigen, nur ganz fein ziselierten Wand blinken bis weit hinauf die Haken. Ein großartiger Weg, aber leider nur für absolute Könner.
     Eine Weile noch sehen wir den Spaniern beim Klettern zu, dann entschließen wir uns, wenigstens einen Versuch zu wagen. Ganz wohl ist uns dabei nicht, denn infolge des verspäteten Aufbruchs am Morgen ist der Tag schon ziemlich weit fortgeschritten. Ich sehe, dass vor allem die ersten beiden Seillängen schwierig sind, senkrecht und ziemlich glatt. Gern wüssten wir, wo genau die Spanier eingestiegen sind. Es gibt nämlich mehrere Möglichkeiten. Ich versuche es sehr weit links. Die Wand ist hier zwar besonders glatt, aber zwei Haken versprechen eine gute Sicherung. Prüfend fasse ich nach den ersten Griffen, und da vollzieht sich das kleine Wunder, das einst Fridl Noack im "Gang zum Berg" so trefflich beschrieben hat:
   "Und da stehst Du und grüßt Deinen Berg,
   legst die Hand an den kantigen Stein
   und fühlst, dass nun ein Bündnis geschlossen
   mit einem Freund, der alles Dir gibt,
   nahst Du ihm ernst und bereit zum ehrlichen Kampf."
Ja, ich empfinde es genau, dieser Fels des Naranjo ist ein Freund. Eisenfester Kalk, selbst kleine Griffe geben prächtigen Halt. Der anfängliche Kleinmut verfliegt und was bleibt, ist unbeschwertes, traumhaft schönes Klettern. Etwa auf halber Höhe kommen uns die Spanier abseilend entgegen. Wir stören uns nicht, denn die jetzt angenehm geneigte Wand lässt sich auf einer Breite von 50 Metern überall gut klettern. Wir wählen einen langen wohlklemmenden Handriss. Die Spanier sehen uns offenbar die Freude an dieser Art des Kletterns an. Sie lächeln uns zu und einer ruft mit nach oben gerichtetem Finger "Yosemite". Wir finden diesen Vergleich gar nicht so sehr übertrieben.
     Phantastisch dann der Blick vom Gipfel. Im Norden - mehr zu ahnen als genau zu sehen - das Blau des Atlantiks. Direkt unter uns der 2000 Meter tiefe Schlund der Cares- Schlucht. Und ringsherum viele beeindruckende Berggestalten. Glücklich strecken wir uns neben einer kleinen, anmutigen Madonna aus und beobachten die Kreise der Gänsegeier hoch über uns. Einer der riesigen Vögel lässt sich sogar auf einem nahen Absatz nieder, zieht seinen langen Hals ein und wirkt jetzt beinahe so edel wie ein Adler. Gern würden wir diese Rast noch ausdehnen, doch die Sonne steht schon tief und der Abstieg ist lang. Die eingerichteten Abseilstellen sind 40 bis 50 Meter auseinander. Wir haben nur ein Seil dabei, dadurch wird es etwas kompliziert und zeitaufwendig. So ist es schon ziemlich finster, als wir bei den Rucksäcken ankommen. Später im Couloir sind wir heilfroh, dass wir am Morgen die Stirnlampen eingepackt hatten.
     Sollte jemand Lust auf den Naranjo bekommen haben - wir versprechen ein großartiges Erlebnis. Wer in den heimischen Felsen im 5-er Bereich sicher klettert, braucht beim Normalanstieg keine Bedenken zu haben. Leider ist die Anfahrt zu den Picos de Europa etwas lang. Aber die kann man leicht auflockern durch einen Zwischenhalt beispielsweise im grandiosen Ordesa-Canyon in den Pyrenäen. Oder an den 300 Meter hohen roten Felsensäulen von Riglos südlich der Stadt Jaca. Oder auch in der Sierra de Loquiz westlich von Pamplona, wo kilometerlange Wandabbrüche - wie weiland die Felsen von Meteora - auf den Sachsen warten, der sie aus ihrem klettersportlichen Dornröschenschlaf weckt. Und die Picos de Europa selbst haben außer dem Naranjo noch viele, viele Sehenswürdigkeiten für einen langen Urlaub.

(Dieser Bericht wurde im Mitteilungsblatt 4/1996 des Sächsischen Bergsteigerbunds veröffentlicht.)


Naranjo de Bulnes   Normalweg  

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