Später Lohn
Bekanntlich ist der kräftige, etwas
zur Fülle neigende Typ im Klettersport
benachteiligt. So sehr er sich auch müht,
das zählbare Ergebnis fällt in der Regel
viel bescheidener aus als beim dünnen, drahtigen Kollegen.
Nur manchmal
gewinnt er zeitweilig an Bedeutung,
an der Teufelsspitze beispielsweise oder am
Märchenturm, wenn das Leichtgewicht einen guten
Baumann braucht. Dann
kommt es vor, dass der Dicke hinterher sogar gelobt wird:
“Wer weiß, ob wir
ohne dich überhaupt hochgekommen wären.”
Das Lob tut gut, aber genau genommen
ist es doch nur das Lob für einen Hilfsarbeiter.
Und das wäre ziemlich
traurig, gäbe es nicht diese höhere Macht,
die - wenn auch oft mit Verzug - für
den verdienten Lohn sorgt. Das folgende Beispiel wird es zeigen.
Es war im schönen Monat Mai.
Zusammen mit meiner Frau hatte ich eine
Woche auf Mallorca verbracht, nicht mit Sangria
und Ballermann, sondern lediglich
mit Wandern und Klettern. Doch heute, am letzten Tag,
möchte meine Frau
endlich mal richtig baden. Wir studieren die Landkarte und
wählen eine Badebucht
an der Westküste. Wir fahren das
steile Sträßchen hinunter, und hurra, ich sehe
sofort, dass wir sehr günstig
gewählt haben. Die Bucht ist ganz einsam, so einsam,
dass selbst die sittenstrengen Einheimischen
textilfrei baden. Und noch etwas
gefällt mir. Im Wasser liegen viele Felsblöcke,
bestens geeignet für eine aktive
Erholung. Wir suchen uns ein ruhiges Fleckchen,
schwimmen im glasklaren
Wasser und lesen in der Zeitung die neusten
Kurse der deutschen Aktien. Dann
beginne ich, die Blöcke zu besteigen.
Erst die kleinen, leichten, dann aber auch
die anspruchsvolleren. Natürlich merke ich,
wie mich die Badegäste beobachten.
Sehr angenehm, wenn man endlich mal seine besonderen
Fertigkeiten vorführen
kann. Als letzten Block habe ich mir das Matterhorn
aufgespart, spitz und scharfkantig
und mindestens vier Meter hoch. Ich brauche lange,
bis mir der erste Zug
aus dem Wasser gelingt. Erschöpft verschnaufe ich
auf einem kleinen Absatz. Ich
schaue hinüber zu meiner Frau und zu meinem
übrigen Publikum, und da geschieht es.
Zwei neue Badegäste kommen
dazu, zwei Damen. Die eine sehr stattlich,
mit üppigen Formen. Die andere eine Königin,
schlank, unendlich lange
Beine, offenbar die Tochter. In ihren Pantoletten schwebt
sie gleichsam über die
Kieselsteine. Die beiden lassen sich ganz nahe
bei meiner Frau nieder. Ich sehe,
wie sie sich entkleiden und wie sie mich dabei
aus der Ferne durch ihre dunklen
Sonnenbrillen mustern. Das spornt an. In möglichst
eindrucksvoller Haltung
steige ich hinauf zum Gipfel, ganz sicher auch für Laien
eine Augenweide. Leider
ist der Block so spitz, dass ich mich nicht darauf
setzen kann. Eine kleine Weile
halte ich mich fest, dann muss ich schnell wieder hinunter.
Als ich am Strand wieder
die Zeitung lese, fällt mein Blick gelegentlich
hinüber zu unseren Nachbarinnen. Irgendwann
erhebt sich die Königin und schreitet
- bekleidet nur mit ihrer Sonnenbrille - zu einem
der Blöcke. Der liegt im flachen
Wasser direkt am Ufer und ist ziemlich klein,
längst nicht vergleichbar mit dem
Matterhorn. Aber sie steigt mit sehr viel Grazie hinauf,
als wolle sie zeigen:
“Schaut her, ich kann das auch!” Sie sitzt oben und
genießt, so wie vorher ich, den
stillen Beifall des ringsum verteilten Publikums.
Sie sitzt lange oben. Die Sonne
nähert sich bereits dem Horizont, als ihr
die Mutter etwas zuruft. Die Königin
rückt die Sonnenbrille aufs Haar und
beginnt abzusteigen. Sie kommt ein Stück
herunter, doch dann geht es nicht weiter.
Die Mutter drängt, aber die Tochter
flüchtet wieder nach oben. Ratlosigkeit.
Nach einer Weile kommt die Mutter zu
uns herüber und sagt in recht gutem Deutsch,
ich möchte doch bitte helfen, sie
hätten ein Taxi bestellt. Nichts, was ich lieber
täte! Ich klettere auf den Block und
zeige der Königin Griff für Griff,
wie sie herunterkommt. Tatsächlich ist da eine
Stelle, wo man geschickt das Gewicht verlagern
muss. Genau an dieser Stelle
bekommt die Königin jedesmal Angst und
steigt schnell wieder nach oben. Das
ist ein schwieriger Fall, normalerweise nur
lösbar über eine aufwendige Rettungsaktion.
Ich aber - der Leser ahnt es sicher schon - erinnere
mich an Teufelsspitze
und Märchenturm. Ich steige ihr ein Stück entgegen
und veranlasse sie, auf meine
Schultern zu treten. Dann stelle ich den rechten
Fuß sehr hoch an den Fels, um ihr
das Knie als weiteren Tritt anzubieten. Aber
sie misstraut offenbar der Kraft meines
Beines, sie wagt nicht den Schritt hinunter
auf das Knie. Plötzlich spüre ich,
wie ihre Beine vor mir an der Brust abwärts gleiten,
und im nächsten Moment
sitzt sie auf meinen Schultern. Sie sitzt ganz still
und rührt sich nicht. Auch ich
stehe ganz still und all mein Gefühl steigt hinauf
in den oberen Rücken. Ewig
möchte ich so stehen, kein Gedanke, nur Gefühl.
Wenn doch die Zeit stehen bliebe!
Doch viel zu schnell geht die Ewigkeit zu Ende,
denn die Königin ist zwar
schlank, aber nicht völlig schwerelos.
Ich merke, wie meine Hände immer schwächer
werden. Nicht auszudenken der peinliche Abschluss,
falls wir beide stürzen.
Unter Aufbietung aller Kräfte steige ich mit
meiner Last hinunter ins flache
Wasser. Ich mache mich klein und die nackte
Königin verlässt mit Würde meine
Schultern.
Die dankbare Mutter schenkt
uns beim Vorbeigehen zwei große Apfelsinen.
Wir aber haben noch etwas Zeit. Ich lese in der
Zeitung, doch in Wirklichkeit durchkoste ich in
meinen Gedanken immer wieder die gelungene Rettung.
Nur gut, dass ich einst das Bauen so gründlich
geübt hatte. Meine Frau aber ist
irgendwie verstimmt. Obwohl es langsam Abend wird,
besteht sie darauf, dass
wir noch einmal gemeinsam ins Wasser gehen, gerade
so, als wäre noch etwas
abzuspülen.
Zurück zur Startseite