Auf gen Norden

Meldung: Fünf Rentner, zwei davon gar weiblichen Geschlechts, machen in einem nicht all zu fernen Erdenwinkel eine richtig große Erstbegehung und dies im Jahre 2003. Muß das die wirklich Leistungsfähigen nicht aufhorchen lassen? Ihr Jungen, die ihr an unseren Sandsteintürmen immer noch neue Linien zwischen den viel zu vielen vorhandenen ausheckt - richtet euern Blick gen Norden!
Im Norden Norwegens, etwa 150 km vor Narvik, tut sich dem staunenden Berglerauge links und rechts der E6 ein aufregendes Felsrevier auf, das die ganze Breite des Landes einnimmt. Freilich ist Norwegen da oben zwischen seiner fjordzerklüfteten Küste und der schwedischen Grenze nicht breiter als unsere Schweiz zwischen Saupsdorf und Berggießhübel - aber welch verlockende Fläche, welch schönes Nebeneinander von Bergen und Meer, welch schier unerschöpfliches Neuland!
Am 01.08.03 also habe ich zusammen mit Helmut und Angela Paul, Karlheinz Bardoux sowie meiner Frau Karin die Ostwand des Litleidtinden durchstiegen. Das ist ein Granitdom dicht am Mörsvikbotn, bissel rechts vom Golfstrom und den Lofoten. Er ist nur 765 m hoch, dafür beginnt die Kletterei aber schon 150 m über dem Meer.
Ein ruhiger Parkplatz auf einem Totarm der ehemaligen E6 offeriert ein ideales Basecamp direkt im Angesicht der Wand. Der Höhenunterschied zwischen Campingstuhl und Einstieg macht so um hundert Meter, die in gutmütigem Gelände leicht überwunden werden. Der eigentliche Weg besteht derzeit (s. u.) aus 21 Seillängen an 50-m-Stricken, die fast alle bis zum Anschlag ausgestiegen werden. Wir schätzen die Kletterstrecke auf 800 - 900 m und das auf einem Granit wunderbarer Art, nämlich sauber, rauh, kompakt. Keinerlei Vegetation bis auf einige Heidelbeerpolster im Dächergürtel, den man in der achten Seillänge erreicht. Nebenher: Die Beeren waren gerade richtig und hoffentlich nicht fuchsbandwurmbeeiert.
Die ersten 300 m tappt man über nahezu strukturlose Flächen - so geneigt, daß es ohne jede Andeutung von Griff und Tritt dennoch geht, so steil jedoch, daß nirgendwo Langeweile aufkommt. Rentnerskala versteht sich. Die Neigung der Wand schätzen wir auf etwa 45 Grad. Dies wirkt, aus der Ferne betrachtet, enttäuschend. Doch ist man erst mal drei, vier Längen in dieser grandiosen Fläche hochgekrochen, sind die Maßstäbe weg, und man hat keineswegs das Gefühl, lediglich exponiert zu wandern. Nein - ich hatte an jedem Stand erneut die Beklommenheit niederzuhalten, die mich beschleichen wollte, wenn ich, den Weiterweg suchend, die scheinbar immer steiler werdende Wand und den darüber hängenden Dächergürtel musterte. Bloß immer die nächsten zehn Meter sehen "eigentlich ganz gut" aus, und die schiebt man mit jedem Schritt vor sich her, und derart löst sich Länge um Länge in der beglückenden Mischung von Zaudern und Triumphieren auf. Gerade, wenn man genug von dieser Schleicherei hat, wenn die Verwunderung abflaut nämlich, erreicht man den Dächergürtel und damit bis zum Gipfel hin Strukturen aller Art: Hangeln, Dächeln, Rippeln, Risseln, Rampen, Bänder, Pfeiler, Nischen und zur Auffrischung immer mal wieder Reibflächen.
Ein Wort zur Sicherung. Bis zum Dächergürtel sind Schlingen, Keile und Friends nichtunterbringbarer Ballast. Weiter oben kann man alles von der klassischen Zackenschlinge bis zum allerneuesten Hyperfriend festmachen, braucht es aber nicht wirklich - jedenfalls, so lange das Wetter nicht norwegisch ist. Der kluge Bergler hat in den Tiefen seines Klettersacks also für alle Fälle etwas mit - das Wetter haut schneller um als bei uns, und das rettende Tal ist fern.
Hat man Sonne - von links zu Mittag, von rechts zur Mitternacht -, dann steigt man so beschwingt durch die Wand, daß man sich mit all diesen klappernden Klemmgeräten gar nicht erst aufhalten will. Ich habe in den ersten siebzehn Seillängen keine zehn Schlingen gelegt - zwei wegen der Seilführung, zwei, weil ich dachte, "wenn's ganz blöd geht, kannste hier durchaus fliegen", den Rest, weil er sich wunderbar anbot, vertrautes sächsisches Handwerk. Lange Schlauchbandschlingen sind dort universal.
Wie konnte ich so unbeschwert drauflosrennen? Nun - wir haben das Bohrregime der strukturlosen ersten Längen konsequent auch in den strukturierten Zonen bis zum Gipfel hin eingehalten: aller 50 m ein eingeklebter Ring vom Typ Hasse/Meteora und dazwischen jeweils ein oder zwei ebenfalls geklebte Bolts. Die Grundidee der lückenlosen Ringabfolge war: Schaffung einer Abseilpiste. Die Bolts hingegen sind hauptsächlich als Orientierungshilfe gedacht, denn in diesem granitenen Ozean kommt man leicht vom Kurs ab.
Nun ehrlich: besagte Abseilpiste existiert nicht. Ich war zwar mit einem Riesenbündel Eisen angereist, hatte ich doch die Weglänge mit den Mitteln der allerhöchsten Mathematik sorgfältig abgeschätzt. Aber offenbar hatte ich beim Pythagoras etwas verschludert, jedenfalls war am 17. Stand Pumpe, wie der Sachse sagt - der letzte Ring im Fels und kein Land in Sicht. Dort nun packte Karlheinz seine Wunderwaffen aus, die er getreulich durch die ganze Wand gebuckelt hatte. Er weiß, daß ich die eigentlich nicht liebe, aber hier nun retteten uns seine Friends und Friendelchens über weitere vier Längen ins Gipfelkraut. Herrlioh war's.
Zur Schwierigkeit: Das Erstbegeherteam ist sozusagen einmütig unterschiedlicher Meinung, hat sich aber schließlich auf UIAA 5, bissel mehr, bissel weniger, verständigt, und das gilt für nahezu jede Länge. Unser Weg ist also kein Langweiler mit einigen wenigen markanten Stellen. Nein - man muß bis zum Schluß wachsam sein, und dies unter <> anderem macht ihn zu einem ernsthaften Unternehmen.
Unser Weg ist schön. Je höher man kommt, desto mehr tut sich ringsum dem Auge auf. Der Fjord mit seinen Ausbuchtungen, Fischerhütten, Siedlungen, Nebentäler mit Seen und Wasserfällen, immer neue Berge am sich weitenden Horizont. Und ob ihr's glaubt oder nicht - in einem dieser Berge haben wir deutlich einen Troll erkannt, der uns ständig im Auge hatte und uns wohlwollend zuzwinkerte, als wir trotz einiger Regenhuschen glücklich den Gipfel erreichten. Der Fels ist wunderbar und selbst in Gipfelnähe kompakt. Und das Schönste: Wenn man all diese Kletterlust dann doch langsam zum Kotzen findet, legt sich das Gelände, und in einer kurzen Wanderung erreicht man den Gipfel, einen richtigen Berg in einem Reigen weiterer lockender Höhen.
PS: So Gott will, wie man neuerdings sagt, werde ich die Abseilpiste noch fertigstellen. Das heißt, daß der Linksschwenk, mit dem wir trotz aufkommenden Regens und peinlichen Materialmangels rettendes Land gewannen, wegfallen und die Route noch einige Längen mehr haben wird.
Und: Wer an Genauerem interessiert ist, dem stehe ich gerne Rede und Antwort, demnächst wohl auch in den unendlichen Weiten des Internet, jetzt gleich auf alle Fälle mit der guten alten Post, per Telefon oder bei einem Glas Bier oder so.
                                                                                   Herbert Richter

Litleidtinden
Die neue Route am Litleidtinden



Anmerkung:
Das eigentlich sehr gute Originalfoto ist hier leider sehr schlecht dargestellt. Demnächst wird das verbessert, damit der Wegverlauf genauer zu erkennen ist. Sollte jemand nach diesem Bericht heiß auf den Litleidtinden geworden sein, kann er Herbert für genauere Informationen jetzt auch in den unendlichen Weiten des Internets ausfragen, und zwar unter der E-Mail-Adresse:
e-mail Adresse


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